Eckig oder Rund? Reflexionen zu den Opferdiskursen in der Kirche

Por Ulrike Gentner
Dic 8th, 2021

Klaus Mertes ist ein Jesuit, der von 1990 bis zu seiner Pensionierung ein langes Berufsleben in der jesuitischen Bildungsarbeit als Campus-Seelsorger und Rektor an drei deutschen Jesuitenkollegien/-schulen hatte.

Seit 2010 hat er wegweisend an der Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchsskandals gearbeitet. Im vergangenen August (2021) erhielt er den «Theologischen Preis» der Salzburger Hochschulwochen für «das Durchbrechen von Schweigespiralen zum Thema Missbrauch und für seine beharrliche Reflexion über die systemischen Ursachen des Missbrauchs und deren Aufarbeitung»; siehe den Hinweis auf diese Auszeichnung im JCEP-Newsletter, September 2021: https://jesuits.eu/news/1839-jesuit-awarded-for-reflection-on-abuse

Klaus Mertes SJ ist in der Aufzeichnung unseres Webinars zu hören und seine Rede anlässlich der Verleihung des Preises wird hier veröffentlicht, um eine Gelegenheit zum vertieften Nachdenken zu bieten. Der Titel bezieht sich darauf, «das Eckige der Konfrontation mit dem Runden der Kooperation zu verbinden» und so eine nachhaltige Basis für die Kommunikation zwischen beiden Seiten zu schaffen.

 

Salzburger Hochschulwochen, 4. August 2021, Klaus Mertes SJ

Am 26. Juni 2021 zog die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der FAZ Bilanz: „Wie in den meisten anderen Ländern waren es auch in Deutschland Betroffene sexueller Gewalt, die die Einrichtung einer Aufarbeitungskommission forderten. Insbesondere die Initiative Eckiger Tisch, die sich auch in sprachlicher Abgrenzung zum Runden Tisch gebildet hatte, engagierte sich dafür.“

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Die Unterscheidung zwischen “rund“ und „eckig“ stand der Sache nach schon bei dem Gespräch im Raum, das Anfang Januar 2010 zum Auslöser meines Briefes an ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs wurde. Matthias Katsch berichtete darüber 10 Jahre später: „Wir brachten unseren Wunsch vor, den Zugang zum Ehemaligen-Verteiler der Schule zu bekommen. Denn wir wollten unsere Jahrgangskameraden und darüber hinaus die mutmaßlich Betroffenen Jahrgänge der siebziger und frühen achtziger Jahre erreichen. Mertes machte sofort klar: Diesen Zugang würde er uns nicht geben. „Wenn, dann schreibe ich selbst einen Brief“, erklärte er. Aber er müsse das erst noch durchdenken.“[1] Ich nehme rückblickend wahr, dass ich mich damals von der Vorstellung abgrenzte, mit einer „runden“ Kooperation zu starten, also gemeinsam einen Brief zu schreiben. Seit 2010 hat mich die Frage dann nicht mehr losgelassen, welches Modell der Kommunikation zwischen Vertretern der Institution und Betroffenen das angemessene für Aufarbeitung von Missbrauch wäre, das runde oder das eckige Modell, Kooperation oder Konfrontation, oder beides zugleich, irgendwie ineinander verschränkt?

Eine staatliche Institution kann zu einem Runden Tisch einladen, sofern sie eine unabhängige neutrale Instanz ist, die nicht in den Missbrauch in der kirchlichen Institution verwickelt ist (wiewohl durchaus in den eigenen – aber das ist ein anderes Thema). Die betroffene Institution kann hingegen kann das nicht. Die Anklage der Betroffenen konfrontiert die Institution. Insofern startet der Prozess notwendigerweise eckig, mit der Konfrontation.[2] Das bedeutet nicht, dass auf beiden Seiten, auch auf Seiten der Betroffenen kein Wunsch und Wille zur Kooperation vorhanden wäre. Dieser Wunsch stellt im Fall der Fälle allerdings insbesondere den Betroffenen neue alte Fallen, die während der Phase der Aufarbeitung in Wiederholungen des Missbrauchs münden. Das ist in den letzten Monaten in der Erzdiözese Köln sichtbar geworden: Aus dem Projekt, Betroffene an der Aufarbeitung zu beteiligen, wurde deren Instrumentalisierung.[3]

Dieses Scheitern ist wiederum kein Argument gegen Beteiligung von Betroffenen. Es kommt ja gerade hinzu: Ziel von Aufarbeitung besteht immer auch darin, die Ausgrenzung der Opfer aus der Gemeinschaft[4] zurückzunehmen, die mit dem Missbrauch gegeben war. Der Wunsch nach Aufhebung der Ausgrenzung schwang 2010 in dem Gespräch im Canisius-Kolleg bei den Betroffenen mit: Sie wollten an der Feier des dreißigjährigen Jubiläums ihres Abiturs im Herbst 2010 teilnehmen und dabei sichergehen, dass die Täter nicht eingeladen werden, und dass sie selbst ihre Geschichte nicht mehr verschweigen müssen, um den faulen Frieden in ihrem Abiturjahrgang zu garantieren. Es geht bei Aufarbeitung eben auch um die Möglichkeit einer „Rundung“. Soll sie gelingen, muss der Wille zur Kooperation schon im Keim des Aufarbeitungsgeschehens mit drinstecken und gewürdigt werden. Wenn Aufarbeitungsprozesse immer nur in der Konfrontation verharren, in diese zurückfallen, sie gar vertiefen und neues Unrecht schaffen, scheitern sie. Auch das ließ sich in den letzten Jahren immer wieder konstatieren.

Welchen Stellenwert haben also in der Aufarbeitung der Wille zur Kooperation und der Wille zur Konfrontation, und zwar auf beiden Seiten? Und was bedeutet das für das jeweilige Rollenverständnis? Die Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Die Missbrauchskrise, so Hans Joachim Sander, „hat die Pro-Contra-Binarität nicht verschärft. Sie hat sie vielmehr aufgelöst.“[5] Er findet dafür das Bild des Möbius-Bandes: Es ist „prima facie ein Band, das ein oben und ein unten hat sowie ein linke und eine rechte Seite. Aber durch die Verdrillung des Bandes ist die Seite oben direkt mit der Seite unten verbunden, wenn man nur dem Band weiter folgt. Ebenso dreht sich der linke Rand in den rechten, wenn es weiter durchschritten wird.“[6] Mit binären Codierungen (richtig-falsch, gut-schlecht, rund-eckig) kommt man da nicht weiter, mehr noch, man fällt von einem Scheitern ins Nächste. Das betrifft gerade auch das Verhältnis von Konfrontation und Kooperation zwischen Betroffenen und Institution in der Phase der Aufarbeitung.

Ich erkenne in den fortdauernden Verdrillungen zwei Themen, die auch für die theologische Reflexion von Bedeutung sind. Da wäre zum einen das Thema der paulinischen „Sünde“ (hamartia), verstanden nicht etwa als Gesetzesübertretung von einzelnen Personen, sondern – im Singular – als Macht, die macht, dass wir sündigen, wie Paulus den Sündenbegriff im Singular konstruiert. Der Machtmissbrauch zeitigt dasselbe wie die Sünde Adams: Er öffnet einer Macht die Tür, die im System weiterarbeitet, alles durchdringt, oder besser: kontaminiert, vergiftet, verdrillt, und vor allem: ohnmächtig macht in Hinblick auf das Gute. „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will, tue ich.“ (Röm 7,14) Der Kreislauf des Scheiterns ist auch und gerade eine Erfahrung der Vergeblichkeit gutgemeinter Anstrengungen, aus eben diesem Kreislauf herauszukommen. Die Macht des Missbrauchs verdrillt alle Bemühungen, genau diese Macht in der direkten Konfrontation zu brechen. Einerseits darf sich die Kirche ja von außen zusagen lassen, dass sie vieles im Bereich von Aufklärung, Prävention und Hilfe getan hat, bis hin zu Veränderungen in den kirchenrechtlichen Verfahren. Ich will das hier nicht ausbreiten, und schon gar nicht bestreiten. Doch andererseits reicht das alles nicht, je nachdem, wie man das Ziel der Aufarbeitung bestimmt, mehr noch: alle Erfolge werden immer wieder verschattet, zum Beispiel von den Bemühungen, das gute Geleistete zur Aufpolierung des eigenen Erscheinungsbildes zu benutzen. Unter der Macht der hamartia stehend wiederholen sich die Verhaltensmuster, die eigentlich überwunden werden sollen. Selbsterlösung unter der Macht des Bösen funktioniert nicht.

Das andere theologische Thema finde ich in dem biblischen Motiv der Versuchung: Der Diabolos ist der Verdriller, der Verdreher. Er geht ebenso plump wie listig vor. Er spricht in komplexen Situationen unterkomplex, oder umgekehrt in einfachen Situationen überkomplex. Er ist der Besserwisser, der „Experte“ schlechthin, natürlich ohne eigenen Erfahrungshintergrund, sondern nur in taktischer Absicht. Aus der Innenperspektive verantwortlicher Position habe ich mich deswegen gelegentlich vor der Über- oder Unterkomplexität der unterschiedlichen Ratschläge, Expertisen und Stimmen in das Mantra gerettet: „Was immer ich mache, es ist falsch. Also mache ich das Falsche, das ich für richtig halte.“

 

Das gilt auch für die theologischen Deutungen. Sie können unterkomplex oder überkomplex sein. Im Kern geht es bei dem Versuchungsmotiv ja um die einfache Frage nach dem Gottvertrauen: Wo begegne ich Gott, seinem Willen, seiner Liebe? Komplex wird es, weil da einer ist, der sich als „Engel des Lichts“ verkleidet, wie Paulus klassisch formuliert. Er tritt als Christus- oder auch als Gottesdarsteller auf. Bezogen auf den Missbrauch werden Kinder und Jugendliche und überhaupt nach Gott suchende Seelen von Inhabern geistlicher Macht, von ihrer Aura und ihrer „Expertise“ in Fallen geführt.[7] Ihr Gottvertrauen wird missbraucht, indem die Täter es auf ihre Person lenken und dann nutzen. Dieses perverse Spiel hört in der Phase der Aufarbeitung nun nicht einfach auf. Die fromm klingenden Drapierungen und die weiter irrlichternden theologischen Anmaßungen zu durchschauen und zurückzuweisen ist da die kritische Aufgabe der Theologie. Man nehme beispielsweise den Umgang mit dem Begriff der „Vergebung“ oder gar den der „Feindesliebe“, zweifellos unverzichtbare, zentrale Begriffe des Evangeliums. 2019 machte ein Vorfall in der Diözese Münster bundesweit Schlagzeilen. Ein Pfarrer predigte über Vergebung und ermahnte die Gemeinde, man solle auch den priesterlichen Missbrauchstätern vergeben. Darauf standen mehrere Personen auf und verließen protestierend den Raum. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass auch Betroffene im Raum sitzen.[8] Es sind in diesem Fall gleich mehrere unterkomplexe Lösungsansätze für die Aufarbeitung erkennen. Und die Entscheidung, aufzustehen und rauszugehen ist die ebenso einfache wie der Komplexität des Verwirrspiels angemessene Entscheidung.

Weil also die Situation so verschränkt ist, bleibt zunächst die Möglichkeit, den Versuchungscharakter der vielen gut klingenden Vorschläge zu durchschauen, die den verführerisch einfachen Weg aus der Verschränkung weisen wollen – und dazu Nein zu sagen, ohne schon gleich sagen zu können, ob und wie Versöhnung positiv werden könnte. Negative Theologie ist eine Kunst der Bestreitung, Sie schützt das Positive durch Bestreitung, obwohl das Positive ihr selbst verborgen ist. Um es mit der klassischen Formulierung zu sagen: „Si comprehenderis non est Deus.“ (Augustinus)

Stellt man die beiden Themen (hamartia und diabolos) zusammen, so ergibt sich: Die Institution kann die Aufarbeitung von Missbrauch aus eigener Kraft allein nicht stemmen. Sie wird vielmehr durch genau diese Versuche in immer neue Fallen geführt. Die positive Rückseite dieser Erkenntnis lautet: Es bedarf einer Instanz „von außen“, um das Eckige der Konfrontation mit dem Runden der Kooperation irgendwie in Verbindung zu bringen. Theologisch gesprochen ist das ein Plädoyer für den Gnaden- oder Geschenkcharakter gelingender Kommunikation zwischen Opfer- und Täterseite. Für den geistlichen Blick ergeht hier eine Einladung zur Aufmerksamkeit für die Zeichen der Zeit, für die Türspalten, die sich im Kreislauf des Scheiterns plötzlich öffnen. Strukturell folgt daraus die Notwendigkeit einer unabhängigen Aufarbeitungsinstanz. Die Kirche in Deutschland versucht seit Beginn dieses Jahres mit „Standards für eine unabhängige Aufarbeitung“ und mit der „unabhängigen Kommission für die Anerkennungszahlungen“ (UKA) erste Schritte des Loslassens, insbesondere Loslassen der Vorstellung, selbst den Graben von der Täterseite zur Opferseite hin überspringen zu können. Ob die Ansätze genügen oder nicht genügen, wird sich zeigen. Ekklesiologisch bleibt jedenfalls noch genügend zu tun, wie auch bischöfliche Äußerungen zu erkennen geben, die in letzter Zeit dafür plädiert haben, Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeiten in der Kirche einzuführen, um Amtsversagen nach transparenten und gerechten Verfahren aufarbeiten zu können – auch dies eine Frucht der eingestandenen Ohnmacht, nicht aus eigener Kraft monarchisch aus den Fallen der Adamssünde des Missbrauchs herauszukommen zu können.

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Jörg Fegert, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie in Ulm, berichtet in der Rückschau von dem Kongress „Towards Healing and Renewal“, der im Februar 2012 an der Gregoriana in Rom unter Beteiligung von Bischöfen und Betroffenen stattfand. „Auch fand im Rahmen dieser viele beachteten Tagung ein Gottesdienst statt, für mich ein einschneidendes Erlebnis, zeigte es aus meiner Sicht doch die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit der Kleriker und die Instrumentalisierung der Betroffenen … Beim Ringen um die Autoren für das Programm (E-Learning) war mir vieles vorbewusst, was mich im Moment des Gottesdienstes mit Betroffenen emotional erreichte. Aus meiner Sicht inadäquate Bildmetaphern, mit einer Diaprojektion von Atombombenbildern und anderer Katastrophen, sollten das Elend der Menschen nach dem Sündenfall beschreiben und sexuellen Missbrauch als eine von vielen Katastrophen erscheinen lassen. Den Betroffenen wurde in diesem Gottesdienst eine Rolle zugewiesen, die für mein Empfinden viel zu früh auf Versöhnung hinzielte. Die Kirchenmusik war für mein Empfinden banal und der Situation nicht angemessen. So wurde die Liturgie mit pseudomodernen Einsprengseln wie Fotoprojektion und naiver, zeitgenössischer Chormusik für mich zum Ausdruck der Verkrustung und Sprachlosigkeit. Immer wieder ging mir Bachs Motette Der Geist hilft unserer Schwachheit auf durch den Kopf, und dabei vor alle die Zeile denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Genau das war es: Es gab keine theologische Haltung zum sexuellen Missbrauch. Sie wussten nicht, was sie beten sollten. Aber statt sich auf unaussprechliches Seufzen zu verlegen, wurden hier inadäquate Metaphern der Vernichtung visuell projeziert … An diesem Abend bekam ich in Rom den Eindruck, Missbrauch ist etwas, mit dem die Kirchen eigentlich nichts zu tun hat, es hat nichts mit ihren Glaubensgründen zu tun. Ein innerer Kompass fehlte, der nicht von außen eingekauft werden kann, sondern aus geistlichem Diskurs entstehen muss.“[9]

Die kirchliche Sprache scheitert nicht nur daran, dass sie in der Situation des Missbrauchs nicht mehr stimmt, sondern daran, dass sie überhaupt noch Worte machen will, wo ihr die Worte doch gerade genommen sind. Es bleibt vorerst nur „Seufzen, das unaussprechlich ist“ (Röm 8,26). Das hat mehrere Gründe. Zum einen haben sich Missbrauchstäter und auch Vertuscher für ihr Tun und Unterlassen der kirchlichen Sprache bedient und sie dadurch kontaminiert. Aus dem Missbrauch der Sprache kann man sich nicht einfach durch richtigen Gebrauch zurückziehen. Der Missbrauch war mehr als nur ein äußerliches Benutzen. Kirchliche Sprache triggert nun bei den Betroffenen Traumata an. Sie tröstet und erbaut nicht mehr. Auch der Versuch der Institution, die Erfahrungen der Betroffenen selbst in Sprache zu bringen, ist untauglich, weil die Wahrnehmungsdifferenzen zwischen den beiden Seiten zu tief sind. Der Graben zwischen Täter- und Opferperspektive lässt sich nicht von der einen zur anderen Seite überspringen. Keine der beiden Seiten hat eine Sprache zur Verfügung, mit der der Graben rund überwölbt werden könnte.

Es kommt hinzu, dass der Kirche im Verhältnis zu Betroffenen gewohnte Rollen versagt sind. Es ist ein Unterschied, ob sich der Samariter dem Geschlagenen am Wegesrande zuwendet, wenn er von anderen Personen ausgeplündert wurde, oder ob er selbst ihn oder sie ausgeplündert hat. Im letzteren Fall stimmen Mitleidssprache, Mitleid mit den Opfern, „Sorge um die Opfer“, wie es so oft in offiziellen kirchlichen Verlautbarungen heißt, nicht mehr. Die Helferposition ist verschlossen. Auch die christologische Würdigung des Opferstatus (Christus an der Seite der Opfer, Christus als Opfer in der Solidarität mit den Opfern) befreit nicht von der Sprachlosigkeit.

Im Zentrum des Problems, das ich hier anzusprechen versuche, steht der kirchliche Umgang mit dem Gerichtsgleichnis im Matthäusevangelium (Mt 25, 31-46). Es wird in kirchlicher Rede oft benutzt, um die Realität der Betroffenen in christologische Rede einzubinden: Gekreuzigte Teddybären, „Kindesmissbrauch ist Gottesmissbrauch“, „die Betroffenen evangelisieren uns“, „die Betroffenen sind die Könige“, und so weiter. Mit solcher Bildsprache arbeitet sich die Kirche über die Christologie in die Nähe zu den Opfern vor. Das ist einerseits verständlich, sofern die Kirche annehmen darf, dass sie von Christus trotz der schändlichen Verbrechen in ihren Reihen und in ihrem Namen nicht getrennt ist; also sucht sie Christus bei den Opfern. In der Situation des Missbrauchs führt das aber in Fallen. Betroffene erleben solche Sprache als Übergriff. Zugleich berichten Betroffene, dass sie auf der Kirchenseite einer unangemessenen Befangenheit begegnen, einer Befangenheit, die sie wiederum als Entzug von Nähe erleben. Wieder eine seltsam verdrillte Ausgangslage. „Im Missbrauch wurde meine Sehnsucht nach Nähe missbraucht, und jetzt wird mir Nähe verweigert, weil ich missbraucht wurde.“ Die Befangenheit erscheint als Rückseite einer übergriffigen Projektion des Tremendum et Faszinosum auf die Betroffenen, die nicht stimmig ist. Es ist dann übrigens auch kein großer Schritt mehr, sich in der selbst hergestellten Nähe zu den Betroffenen dann wieder mit ihnen zu verbinden in einer maximalem Verurteilungssprache über Täter, wie man sie zum Beispiel auch in der Rede von Papst Franziskus zum Abschluss des Missbrauchsgipfels im Februar 2019 hören konnte. Doch die Kirche kann sich weder so noch anders aus der eckigen Konstellation wegdefinieren. Vielmehr schlägt ihr in der Missbrauchskonstellation aus dem Gerichtsgleichnis genau die gegenteilige Botschaft entgegen: „Weg von mir.“ (Mt 25, 41) Ich höre darin auch: „Bleib auf der anderen Seite des Grabens“.

Doch was bleibt auf der anderen Seite des Grabens übrig? Ich meine: Die Nähe Christi zur sündigen Kirche in seiner solidarischen Stellvertretung. „Der Menschensohn ist gekommen, um sein Leben hinzugeben als Lösegeld für die Vielen.“ (Mt 20,28) In dieser Perspektive steht Christus gerade nicht stellvertretend für die Opfer, sondern stellvertretend für die Sünderseite, also für die andere Seite des Grabens, und leistet Sühne. Das setzt den selbstkritischen Blick auf die eigene hässliche Seite voraus, gerade nicht den narzisstisch verklärenden, klassisch gesprochen: Bekenntnis so wie anschließend tätige Reue. Deswegen ist es ja gerade auch unter christologischer Rücksicht richtig, dass sich die Kirche auf den Weg der Aufarbeitung begeben hat. Täte sie es nicht, würde sie dem ihr voranschreitenden Menschensohn nicht nachfolgen.

Das alles ist wiederum nicht – der Differenzierung gibt es kein Ende – im Sinne einer Privatisierung der Beziehung zu Jesus an den Betroffenen vorbei zu verstehen, wie sie in einer irregeleiteten Beicht- und Absolutionspraxis von Tätern beansprucht und ihnen gewährt wurde. Auch wird den Betroffenen keineswegs die Nähe Christi abgesprochen, wenn er auch auf der anderen Seite nahe ist. Es ist nur eine andere Nähe, nicht dieselbe. Ein zentraler Aspekt der Inkarnation wird sichtbar: Christus begibt sich in die Logik der Lösegeldzahlung, die von der Sünderseite her zu leisten ist: Annahme von Konsequenzen des Versagens, gerade auch stellvertretend, Umkehr, nicht nur individuell, sondern in Bezug auf das eigene Selbstverständnis als Institution. Deswegen ist es ja für die Aufarbeitung unverzichtbar, über die begünstigenden systemischen Faktoren zu sprechen, bei denen im Sinne der „metánoia“ umgedacht werden muss. Wer hier von „Missbrauch des Missbrauchs“ spricht, hat etwas Wesentliches nicht verstanden. „Was krumm ist, soll gerade werden“ (Jes 404), was eckig rund, und das kann gelingen, wenn man weder ausweicht noch es nur selbst machen will, sondern in der Nachfolge Christi bleibt.

[1] Matthias Katsch: Damit es aufhört – vom befreienden Kampf der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche, Berlin 2020, S.51f
[2] 2010 luden die Betroffenen der Jesuitenschulen im Frühjahr und Herbst Vertreter des Jesuitenordens zweimal zu einem „Eckigen Tisch“ ein.
[3] Vgl. FAZ, 14.11.2020: Missbrauchte Betroffene
[4] Institution ist ja nicht „nur“ Institution, sondern repräsentiert und strukturiert Gemeinschaften.
[5] Hans Joachim Sander: Anders glauben, nicht trotzdem – Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen, S. 135
[6] Ebd., S.17
[7] Vgl. dazu jüngst Herderkorrespondenz 8/2021, Statisten beim Fest, S,26 ff
[8] Berichterstattung siehe katholisch.de, 9.7.2019
[9] Jörg Fegert, Sexueller Missbrauch: Empathie statt Klerikalismus, in: STIMMEN DER ZEIT 3/2019, S.199f

 

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